Oft zieht es Touristen zu den Sehenswürdigkeiten einer Stadt: alte Paläste, große Monumente und geschichtsträchtige Begegnungsstätten, mit denen sich eine Stadt schmückt. An ihnen wird die Besuchswürdigkeit und historische Relevanz der Stadt gemessen – und das Prädikat „sehenswürdig“ vergeben.
(c) by Michael S.
Ein Gedankenexperiment
Wie wäre es sich mal eine Stadt ohne Sehenswürdigkeiten anzusehen? Oder zumindest abseits dieser? Hier setzt die Idee der Anti-Touri-Tour an: Es werden nur Orte angesteuert, die unsehenswürdig sind. Auch die von ZDFkultur gestartete „Anti-Sightseeing-Tour“ will Städte ohne große Sehenswürdigkeiten sehenswert machen. Wie? Durch die kleinen, ungesehenen Aspekte, die eine Stadt lebenswert machen. Doch eine Anti-Touri-Tour könnte noch mehr erreichen, als nur wieder zur Aufwertung einer Stadt im klassischen Sinne beizutragen.
In Duisburg könnte die Anti-Touri-Tour vom Love-Parade-Tunnel, mit einer Besichtigung der genauen Unglücksstelle, über das Headquater der Bandidos hin zum italienischen Mafia Restaurant, bis nach Marxloh führen, dem „sozialen Ghetto“ Duisburgs.
Oder stellen wir uns vor nach Erfurt zu reisen, um dort die Route des Amokläufers nachzuvollziehen. Ausgestattet mit einem Leitfaden, folgen wir Markierungen auf dem Boden, die uns ein Gefühl für Raum und Zeit der Tat geben und somit auch für das Schrecken. Denken wir einen Schritt weiter. Wie wäre ein digitales Egoshoot-Spiel im realen Raum, in dem wir den Amokläufer selbst spielen, die Tat durchlaufen und sogar noch erfolgreicher aus dem Kampf herausgehen könnten. Makaber. Vielleicht.
Wieso konzentrieren wir uns immer nur auf jene Orte, die vorzeigbar sind? Wieso soll nicht auch mal eine Auseinandersetzung mit Problemen, dem Vergessenen oder Verdrängten und somit eine Konfliktverarbeitung stattfinden? Weil es unbequem ist. Vielleicht.
Die Stadt aus der Perspektive des Verdrängten
Schönheitsflecken, soziale Brennpunkten oder kriminelle Zentren bringen Schande über die Stadt, werden versteckt und sollen nicht das Image stören oder gar repräsentieren. Lediglich positiv besetzte Eigenschaften, wie Wissenschaftsstadt, Messestadt, Jugendstilstadt, etc. werden herausgekehrt. Nicht jedoch: kriminellste Stadt, lauteste Stadt oder Stadt mit der höchsten Arbeitslosenquote Deutschlands. Aber zeigt das hingegen nicht das eigentliche Gesicht der Stadt? Am Rand der Gesellschaft liegt doch das vermeintlich Authentische und somit die wahre Seele einer Stadt. Wenn Sehenswürdigkeiten immer nur das stilisierte und idealisierte einer Stadt vermitteln, dann würde das im gleichen Zuge doch auch bedeuten, dass genau dadurch gar kein authentisches Bild der Stadt gezeigt werden kann, durch eine Anti-Touri-Tour hingegen schon eher? [Was aber die Grundfrage danach aufwirft, wo sich das „Authentische“ auffinden lässt. Ob es nur durch Inszenierungen wie z.B. im Rahmen einer Tour zugänglich wird und ob es uninszenierte Authentizität überhaupt geben kann. Gerade wenn es um die Darstellung problematischer oder vergangener Orte geht, und diese visuell faktisch erscheinen wollen, müssen sie sich wiederum inszenieren und nehmen somit vielleicht wieder Strukturen einer Sehenswürdigkeit an.]
Als Tourist ist man immer einem inszenierten Dispositiv ausgesetzt. Einer vorzeigbaren bzw. vorgezeigten Stadt. Die ausgeschnittenen Elemente sind auf den ersten Blick unsichtbar und deshalb für den normalen Touristen nicht zugänglich. Weshalb sollte man die Stadt nicht mal invertiert, quasi als Bildnegativ betrachten? Die Anti-Touri-Tour soll genau das leisten: Städte von unten betrachten, aus der Perspektive des Verdängten.
Der Blick in die ausgestülpten Bereiche, fernab des Vorzeigbaren, verrät mehr über das wahre Bild einer Stadt, als jene Attraktionen, die ohnehin jeder zu Gesicht bekommt. Denn durch das Einnehmen einer anderen Perspektive wird der Ausdruck Parallelgesellschaft erfahrbar und die Unsichtbarkeit ausgegrenzter Personen im städtischen Gesamtbild wieder sichtbar. Das Theaterstück „Niemandsland“ des holländischen Regisseurs Dries Verhoeven verfolgte ebenfalls diese Idee: Niemandsland nahm den Besucher auf eine auditive Reise in Hannover, um ihm individuelle Schicksale und Geschichten von dort lebenden Migranten zu schildern. Ausgestattet mit Köpfhörern lief man durch bekannte Straßen und erhielt ungekannte Einsichten.
Etwas weniger makaber als eine Amok-Tour durch Erfurt, dafür leichter erträglich und deshalb schon praktiziert, sind die Zweite-Heimat-Touren in Neukölln bei denen Migranten ihre Sicht auf Berlin zeigen und den Besucher an verborgene oder alltägliche Orte führen, zu denen er sonst niemals durchdringen würde. Genau dort kann man die Stadt aus einer neuen Perspektive betrachten, den Schwierigkeiten der Integration von Türken näher kommen und für diese Problematiken sensibilisiert werden.
http://www.youtube.com/watch?v=ZV0Z7sUqpG0
Tags: angedacht, draufgeschaut, herbeigewünscht, Theorie
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