Anti-Touri-Tour

Oft zieht es Touristen zu den Sehenswürdigkeiten einer Stadt: alte Paläste, große Monumente und geschichtsträchtige Begegnungsstätten, mit denen sich eine Stadt schmückt. An ihnen wird die Besuchswürdigkeit und historische Relevanz der Stadt gemessen – und das Prädikat „sehenswürdig“ vergeben.

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Ein Gedankenexperiment

Wie wäre es sich mal eine Stadt ohne Sehenswürdigkeiten anzusehen? Oder zumindest abseits dieser? Hier setzt die Idee der Anti-Touri-Tour an: Es werden nur Orte angesteuert, die unsehenswürdig sind. Auch die von ZDFkultur gestartete „Anti-Sightseeing-Tour“ will Städte ohne große Sehenswürdigkeiten sehenswert machen. Wie? Durch die kleinen, ungesehenen Aspekte, die eine Stadt lebenswert machen. Doch eine Anti-Touri-Tour könnte noch mehr erreichen, als nur wieder zur Aufwertung einer Stadt im klassischen Sinne beizutragen.

In Duisburg könnte die Anti-Touri-Tour vom Love-Parade-Tunnel, mit einer Besichtigung der genauen Unglücksstelle, über das Headquater der Bandidos hin zum italienischen Mafia Restaurant, bis nach Marxloh führen, dem „sozialen Ghetto“ Duisburgs.
Oder stellen wir uns vor nach Erfurt zu reisen, um dort die Route des Amokläufers nachzuvollziehen. Ausgestattet mit einem Leitfaden, folgen wir Markierungen auf dem Boden, die uns ein Gefühl für Raum und Zeit der Tat geben und somit auch für das Schrecken. Denken wir einen Schritt weiter. Wie wäre ein digitales Egoshoot-Spiel im realen Raum, in dem wir den Amokläufer selbst spielen, die Tat durchlaufen und sogar noch erfolgreicher aus dem Kampf herausgehen könnten. Makaber. Vielleicht.
Wieso konzentrieren wir uns immer nur auf jene Orte, die vorzeigbar sind? Wieso soll nicht auch mal eine Auseinandersetzung mit Problemen, dem Vergessenen oder Verdrängten und somit eine Konfliktverarbeitung stattfinden? Weil es unbequem ist. Vielleicht.

Die Stadt aus der Perspektive des Verdrängten

Schönheitsflecken, soziale Brennpunkten oder kriminelle Zentren bringen Schande über die Stadt, werden versteckt und sollen nicht das Image stören oder gar repräsentieren. Lediglich positiv besetzte Eigenschaften, wie Wissenschaftsstadt, Messestadt, Jugendstilstadt, etc. werden herausgekehrt. Nicht jedoch: kriminellste Stadt, lauteste Stadt oder Stadt mit der höchsten Arbeitslosenquote Deutschlands. Aber zeigt das hingegen nicht das eigentliche Gesicht der Stadt? Am Rand der Gesellschaft liegt doch das vermeintlich Authentische und somit die wahre Seele einer Stadt. Wenn Sehenswürdigkeiten immer nur das stilisierte und idealisierte einer Stadt vermitteln, dann würde das im gleichen Zuge doch auch bedeuten, dass genau dadurch gar kein authentisches Bild der Stadt gezeigt werden kann, durch eine Anti-Touri-Tour hingegen schon eher? [Was aber die Grundfrage danach aufwirft, wo sich das „Authentische“ auffinden lässt. Ob es nur durch Inszenierungen wie z.B. im Rahmen einer Tour zugänglich wird und ob es uninszenierte Authentizität überhaupt geben kann. Gerade wenn es um die Darstellung problematischer oder vergangener Orte geht, und diese visuell faktisch erscheinen wollen, müssen sie sich wiederum inszenieren und nehmen somit vielleicht wieder Strukturen einer Sehenswürdigkeit an.]

Als Tourist ist man immer einem inszenierten Dispositiv ausgesetzt. Einer vorzeigbaren bzw. vorgezeigten Stadt. Die ausgeschnittenen Elemente sind auf den ersten Blick unsichtbar und deshalb für den normalen Touristen nicht zugänglich. Weshalb sollte man die Stadt nicht mal invertiert, quasi als Bildnegativ betrachten? Die Anti-Touri-Tour soll genau das leisten: Städte von unten betrachten, aus der Perspektive des Verdängten.

Der Blick in die ausgestülpten Bereiche, fernab des Vorzeigbaren, verrät mehr über das wahre Bild einer Stadt, als jene Attraktionen, die ohnehin jeder zu Gesicht bekommt. Denn durch das Einnehmen einer anderen Perspektive wird der Ausdruck Parallelgesellschaft erfahrbar und die Unsichtbarkeit ausgegrenzter Personen im städtischen Gesamtbild wieder sichtbar. Das Theaterstück „Niemandsland“ des holländischen Regisseurs Dries Verhoeven verfolgte ebenfalls diese Idee: Niemandsland nahm den Besucher auf eine auditive Reise in Hannover, um ihm individuelle Schicksale und Geschichten von dort lebenden Migranten zu schildern. Ausgestattet mit Köpfhörern lief man durch bekannte Straßen und erhielt ungekannte Einsichten.

Etwas weniger makaber als eine Amok-Tour durch Erfurt, dafür leichter erträglich und deshalb schon praktiziert, sind die Zweite-Heimat-Touren in Neukölln bei denen Migranten ihre Sicht auf Berlin zeigen und den Besucher an verborgene oder alltägliche Orte führen, zu denen er sonst niemals durchdringen würde. Genau dort kann man die Stadt aus einer neuen Perspektive betrachten, den Schwierigkeiten der Integration von Türken näher kommen und für diese Problematiken sensibilisiert werden.

 

http://www.youtube.com/watch?v=ZV0Z7sUqpG0

Culture Jamming

Culture Jamming Esso

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„we’re not really doing anything illegal, we’re just borrowing a stage“

(00:27:00)

Die subversive Technik Détournement, die Marcel bereits vorgestellt hat, findet auch Anwendung bei der aktuellen Bewegung Culture Jamming

Hierbei handelt es sich ebenfalls um Zweckentfremdung, jedoch im Hinblick auf (Konsum-)Kritik.

Im Vordergrund steht das Umdeuten von kommerziellen Botschaften sowie das Umfunktionieren dieser Botschaft hin zu einer kritischen Perspektive. Dabei dienen unter anderem Werbeplakate als Mittel der Verfremdung.

Kommerzielle Botschaften werden durch minimale Veränderungen in einen neuen Kontext überführt – die Aussage wird dadurch subversiv verändert. Mithilfe der Verfremdung können auf den üblichen Werbeplattformen bestimmte Sujets problematisiert werden. Culture Jamming stellt somit eine öffentliche Kommunikationsplattform dar, quasi ein Sprachrohr von unten. Dabei fließt stets eine Wertung und Stellungnahme des Autors in den Verfremdungsprozess ein, wie beispielsweise bei dem Esso-Logo.

Verfremdung als ästhetische Taktik

Nach Brecht ist Verfremdung eine ästhetische Taktik, bei dem man das Selbstverständliche/Bekannte/Einleuchtende nimmt und darüber Staunen und Neugierde erzeugt. Dabei werden belehrende Elemente einmontiert, die den Fluss des Spiels unterbrechen und im Gegensatz zur ursprünglichen Aussage stehen (vgl. Brecht in Schober, 2009, S. 36).

(c) by wins.failblog.org

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Verfremdung, Collagen, Montage, Zertrümmerung oder Parodie sind Verfahren, mit deren Hilfe gewohnte Formen des öffentlichen Sich-Austauschens – der Wahrnehmung, der Selbstdarstellung, des Erzählens, des Kommunizierens – problematisiert und Umstände diskutiert werden können (vgl. Schober, 2009, S. 34).

Das Potential in den Verfremdungs-Techniken liegt darin, mit Hilfe des Überraschungsmoments eingefrorene Sichtweisen und Weltbilder aufzubrechen. Ziel des Culture Jammings ist es, die Blickperspektive zu wechseln, zu überraschen und somit Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Thematik zu lenken.

Humor als Inszenierungsmittel

Als häufiges Inszenierungsmittel dient dabei die Verwendung von Humor und Ironie. Ein humorvoller Umgang schafft es Tabuisiertes aussprechbar zu machen und agiert als machtreduzierendes Instrument. Der humorvolle Mensch ist nach Freud fähig, sich selbstkritisch neben sich zu stellen und Situationen von außen zu betrachten. Auch Jean Paul stellt fest, dass der „Erbfeind des Erhabenen das Lächerliche ist“ (vgl. Volmer, 2009). So wundert es nicht, dass beim Culture Jamming oftmals ein amüsierter Umgang mit dem Original stattfindet. Durch den Einsatz des Humors wird das Erhabene – ein Konzern beispielsweise – erniedrigt, was zu einer Relativierung führt. Das Herbeiführen des Lachens ist eine „versteckte Form der Machtausübung“: man kann nicht nur die Vorlage erniedrigen, sondern auch Macht gewinnen (vgl. Volmer, 2009).

(c) by www.karmakonsum.de

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Zusammenfassend lässt sich sagen:

Culture Jamming bezeichnet antikommerzielle Fakes, die sich dem kommerziellen System bedienen und es mit seinen eigenen Mitteln schlagen. Hierunter lässt sich auch die spezielle Form Adbusting fassen. Legales Adbusting wurde in Berlin bereits 2008 umgesetzt: in einem Berliner U-Bahnhof durften subversive Plakate unter kontrollierten Umständen hängen. Ob das noch dem eigentlichen Zweck entspricht, sei hier mal in den Raum gestellt. Mehr zum Thema Culture Jamming und viele Beispiele findet ihr auf Konsumpf sowie in der amerikanischen Dokumentation Culture Jam Documentary.

 

Quellen:

Schober, A.  (2009). Ironie,  Montage, Verfremdung. Ästhetische Taktiken und die politische Gestalt der Demokratie. München: Fink.

Volmer, S. (2009). Hitler als komisches Sujet. Marburg: Tectum.

Theorie 5: Guerilla-Zweckentfremdung

(c) by Kevin Cyr

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In der letzten Theoriefolge habe ich Derivé als subversives Erkundungs-Prinzip der Situationistischen Internationale (SI) beleuchtet. Diesesmal stelle ich die zweite Technik vor:

Détournement
Eine weitere subversive Technik ist Détournement, was Zweckentfremdung bedeutet. Hierbei werden vorhandene Elemente aus der Kultur (z.B. Bilder, Möbel, Gebrauchsgegenstände) benutzt und in einem anderen Kontext gestellt. So führt man die originären Bedeutungen ad absurdum und kann innovative Gebrauchsweisen finden. Die SI setzt allerdings voraus, dass alle kulturellen Güter generell Gemeingüter sind und damit auch uneingeschränkt Verwendung finden sollten. Détournement macht ein „Plagiat notwendig“ (DEBORD 1995, S.41) und widersetzt sich so dem kapitalistischen Verständnis von Eigentum. Das klassische Urheberrecht wird aufgehoben und es verschwimmt die Grenze zwischen Produzent und Konsument. Ideen können dann frei im kulturellen Raum schweben und von jedem benutzt werden.

In ihrer praktischen Anwendung bediente sich die SI z.B. an den Bildern alter Meister und setzte sie mit Comicstrips und Überschriften in neue Kontexte (vgl. LIEBL 2005a, S.15ff. / SEIFERT 2004, S.200ff.). Debord und Wolman unterscheiden zwei Pole des Détournement: Der erste Pol ist die geringfügige Zweckentfremdung, die sich unbedeutende Elemente eines Gesamtwerkes herauspickt und in einem neuen Zusammenhang collagiert (z.B. Fotoschnipsel aus Zeitungen für Collagen). Der andere Pol führt die Zweckentfremdung missbräuchlich durch und arbeitet absichtlich mit bedeutenden Elementen (z.B. der Kopf der Mona Lisa auf einer Überwachungskamera). Weiterhin formulieren sie Gesetzmäßigkeiten, die für eine erfolgreiche Rezeption und Anschlusskommunikation sorgen können (vgl. DEBORD /WOLMAN 1995, S. 22f.):

  1. Am überzeugendsten wirkt ein Element, das aus dem entferntesten Zusammenhang benutzt wird (z.B. Trompeten als Urinal verwenden).
  2. Nach dem Motto ‚Keep it simple and stupid’ soll die zweckentfremdete Bedeutung nachvollziehbar und erinnerbar sein (z.B. Suppe mit der Kaffeemaschine kochen).
  3. Eine rein rationale Erwiderung ist ein schlechter Weg, wenn sie als banale Schlagfertigkeit formuliert wird.
  4. Zweckentfremdung durch einfache Umkehrung der vorherigen Bedeutungwirkt am schwächsten (z.B. FDP-Wahlkampf-Slogan 2009 ‚Für alle, die mehr wollen’ umwandeln in ‚Für niemanden, der mehr will’ – besser wäre ‚Für alle, die nicht mehr können’).

Diese Erkenntnisse waren damals nicht neu und blicken u.a. auf Errungenschaften der Surrealisten zurück. In der Absicht Debords steckt zumeist ein Politikum, denn Zweckentfremdung wird meistens gegen etwas benutzt. Es geht ihm darum, für die ‚gute’ linke Seite spielerisch zu agieren.

Guerilla-Détournement

Im Gegensatz dazu stehen wir dem Spiel völlig unvoreingenommen gegenüber und wollen Begeisterung für eine Sache wecken – nämlich Nachhaltigkeit. Die Nachhaltigkeits-Guerilla versteht sich als Ideenschmiede, in der wir neue Kontexte damit neue Zielgruppen für DAS LEITBILD des 21 Jh. erschließen. Jeder ist willkommen unsere Ideen, Ansätze und Aktionen aufzugreifen und sie weiterzuentwickeln, denn unsere Inhalte sind Gemeingut und dürfen sollen kopiert werden.

(Beim nächsten Mal folgt die dritte subversive Technik der SI: Bricolage.)

Quellen

DEBORD, Guy / WOLMAN, Gil (1995): Gebrauchsanweisung für Zweckentfremdung. In: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Übersetzt von Pierre Gallissaires.
Hamburg: Edition Nautilaus. S.20-26. (Org. 1957).

DEBORD, Guy (1995): Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz. In: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Übersetzt von Pierre Gallissaires. Hamburg: Edition Nautilus. S.28-44. (Org. 1957).

LIEBL, Franz et. al. (2005a): Before and After Situationism – Before and After Cultural Studies. The Secret History of Cultural Hacking. In: Düllo, Thomas / Liebl, Franz (Hrsg.):Cultural Hacking. Kunst des strategischen Handelns. Wien: Springer. S.13-46.

SEIFERT, Anja (2004): Körper, Maschine, Tod. Zur symbolischen Artikulation in Kunst und Jugendkultur des 20. Jahrhundert. Wiesbaden: VS Verlag.

Persuasion im öffentlichen Raum

Wie Ihr es gewohnt seid, gibt es am Folgetag eines Vortrags die Folien auf dem Blog. Einige von den Folien kennt Ihr schon, ein paar Theoriefolien sind dazu gekommen: Folien zum Vortrag ‚Persuasion im öffentlichen Raum‘ vom 16.02.2011 an der Uni Trier, Fachbereich Sozialpsychologie, hier herunterladen.

Theorie 4: Derivé – Spielerisch die Stadt erkunden

mapping the city (c) by milva stutz

mapping the city (c) by milva stutz

Nachdem ich mich das letzte Mal mit Spiel und Spektakelauflösung beschäftigt habe, ist es nun an der Zeit konkrete subversive Techniken der Situationistischen Internationale (SI) zu beleuchten. Heute fangen wir mit der Ersten an:

Dérive

Dérive ist das ziellose Umherschweifen in abwechslungsreichen Umgebungen. Dabei ähnelt es weniger einem erholsamen Spaziergang, sondern vielmehr einer forschenden Erkundung. Man verzichtet für eine gewisse Zeit auf Gewohnheiten und distanziert sich von allem Bekannten. Dann lässt man sich in einem emotionalen Spiel auf die Versprechungen eines Raumes ein und folgt z.B. den anziehenden und abstoßenden Ecken einer Stadt. Hier werden die Wirkungen, die der Raum auf die Psyche ausübt, von den Umherschweifenden studiert und hinterfragt. Es geht im Kern darum, Neues zu entdecken oder Vertrautes als fremd wahrzunehmen. Die untersuchten Ergebnisse sollten in Karten eingezeichnet und so  psychogeographische Zusammenhänge sichtbar gemacht werden (=Psychogeographie beinhaltet die Forschung über die Auswirkungen von geographischen Gegebenheiten auf die Emotionen von Menschen).

Daraufhin können neue Ideen entwickelt und im urbanen Raum integriert werden. Eine Idee war beispielsweise, kleine Brücken zwischen Hausdächern zu bauen, so dass Bürger auf den Dächern entlang wandern und mit einer anderen Perspektive die Welt betrachten können. Psychogeographische Karten zielen nicht darauf ab, „beständige Kontinente genau abzugrenzen, sondern die Architektur und den Urbanismus umzuwandeln“ (SI-REVUE 2008e). Man wollte die alltägliche Lebenswelt radikal umbauen und so den Menschen zu neuen spielerischen Situationen einladen.

Der Umherschweifende Guerillero

Damit ähnelt die Motivation eines Umherschweifenden grundsätzlich dem Forscherdrang eines Nachhaltigkeits-Guerillero bzw. Nachhaltigkeits-Hacker. Man lässt sich bedingungslos und spielerisch auf virtuelle Räume ein und erkundet sie, mit dem Ergebnis, darin Änderungen hervorzurufen. Jedoch wird der ursprüngliche Anwendungsbereich des Umherschweifens durch dogmatische Vorgaben der SI stark eingegrenzt und durchdefiniert. In der festgelegten Vorstellung der SI ist das Umherschweifen nämlich mit zwei bis drei Personen am fruchtbarsten und sollte idealerweise vom Aufwachen bis zum Einschlafen dauern, wobei Gewitter und kurze Schauer das beste Wetter darstellen, um neue Entdeckungen zu machen. Dabei umfasste das Umherschweifen eine genaue Definition des Ausgangspunktes und der möglichen Stoßrichtungen, usw. (vgl. SI-REVUE 2008e).

Wenn man Dérive jedoch als zielloses Konzept begreift und sich mit Zeit, Leidenschaft und Neugier losgelöst von Gewohnheiten auf Dinge spielerisch einlässt, produziert dies neue Erkenntnisse, die als Grundlage für mächtige Innovationen dienen können. Das kann sowohl im Real-Raum – der Stadt, dem Dorf, das Land – oder im virtuellen Raum ausprobiert werden. Die Nachhaltigkeits-Guerilleros verstehen sich sowohl als Online-Umherschweifer als auch als Stadtvagabunden. Wir erkunden Räume, starten Experimente und wollen so Nachhaltigkeit für neue Themengebiete fruchtbar machen.

(Beim nächsten Mal folgt die nächste subversive Technik der SI: Détournement.)

Quelle

SI-REVUE (2008e): Theorie des Umherschweifens. In: Online-Ausgabe der Zeitschrift der Situationistischen Internationale Nr.2 von 1958. Übersetzung von 1976.

.: Stadtkultur verstehen – Dissonanzen erzeugen :.

aufgenommen in der U-Bahn-Station Rosenthaler Platz, Berlin Januar 2010

Im urbanen Raum spricht Baudelaire von „Ennui“ [Langeweile], die sich bei seinen Bewohnern einstellt. Die „Ennui“ begründet sich in der Sphäre der Oberflächlichkeit, in der wir uns alltäglich bewegen. Wir begegnen einem Netz aus fremden Personen morgens auf dem Weg zu Arbeit, beim Einkaufen, beim Umherlaufen oder beim Feiern. Es ist ein Raum der allen gemein ist, dadurch erscheint er „weniger bedeutsam als jenes ‚wirkliche Leben‘, das sich im Inneren jedes Einzelnen abspielt“ (Sennett, 1990, S. 160). In diesem Gegensatz zwischen Innen und Außen äußert sich die Langeweile und resultiert in der Annahme, nichts dort draußen sei meiner würdig.

Die moderne Großstadt überwindet die großstädtische Ennui

Nach Baudelaire kann jedoch die moderne Großstadt diese Langeweile überwinden und die Menschen veranlassen, sich nach Außen, statt nach Innen zu wenden (in Sennett, 1990, S. 161). Wenn die Großstadt Differenzen vermittelt, schafft sie es jene Langeweile zu überwinden und die Menschen orientieren sich aus dieser Mannigfaltigkeit heraus neu. Nach der Chicagoer Schule (bei dem der persönliche Geist ebenfalls im Kontrast zum unpersönlichen Kollektiv steht) besteht die urbane Kultur im „Erleben und Erfahren von Unterschieden von Klassen-, Alters-, Rassen- und Geschmacksunterschieden“ (Sennett, 1990, S. 165) im öffentlichen Raum. Dabei ist die Großstadt von einer anderen Ordnung geprägt: durch die Abwesenheit der moralischen Ordnung ergibt sich eine bruchstückhafte Ordnung, die sich durch die unterschiedlichen Bewohnern konstituiert. Aus diesem Gros an Gebrochenheit und Differenz ergeben sich für die Bewohner „segmentierte Rollen“: der Städter wechselt die Orte und Aktivitäten schneller. Sennett beschreibt den urbanen Städter als „Chamäleon“ (1990, S. 167). Das „fragmentierte Selbst“ ist empfänglicher für Anregungen aus der Außenwelt und überwindet die großstädtische „Ennui“. Dadurch hat er die Möglichkeit aus sich herauszutreten und den urbanen Raum für sich zu nutzen und mitzugestalten.

Berlin als Exempel einer modernen Großstadt

Nach Baudelaire kann die Großstadt „statt Ganzheit […] die Erfahrung von Differenz vermitteln“ (Sennett, 1990, S. 161). In Berlin erleben wir ein anonymes Netz das im Gegensatz zum Individuum steht. Jedoch ist Berlin eine heterogene und moderne Großstadt – sie vermittelt Differenzen und Mannigfaltigkeit an vielen Ecken. Es entspricht dem modernen Geist nach Baudelaire, der gekennzeichnet ist durch „das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige“ (in Sennett, 1990, S. 164). In diesem Konglomerat an Unterschieden und Bruchstücken, findet der Berliner seine Freiheit. Das fragmentierte Selbst überwindet dabei den Raum zwischen Außen und Innen und tritt im öffentliche Raum an vielen Stellen in Kontakt und trägt somit wieder zur wahrgenommenen Mannigfaltigkeit der Stadt bei. Notes of Berlin versucht z.B. den öffentlichen Charakter Berlins festzuhalten. Hier werden Mitteilungen an Kiezkollegen oder eine öffentlicher Weihnachtswunschzettel festgehalten.

Prinzipien der modernen Großstadt

Aus dem Charakter von Differenz und Modernität ergeben sich verschiedene Prinzipien, die die Gestalt des öffentlichen Raums beschreiben. Zum einen die Zerbrechung der Linearität: Dieses Prinzip beschreibt das Nicht-Planbare, das eigentliche Leben, das geprägt ist von Spontaneität. Gerade Berlin weist viele Beispiele für die Zerbrechung der Linearität auf. Nicht nur geschichtlich zeigte sich Berlin häufig unvorhersehbar, auch aktuelle Beispiele wie Mediaspree Entern, zeigen, wie ein geplantes Vorhaben vorzeitig unterbrochen werden musste. Auch viele Zwischennutzungsprojekte brechen mit einstigen Nutzungskonzepten. Das zweite Prinzip beschreibt die Überlagerung von Unterschieden. Statt einem Nacheinander kommt es hier zu einem Übereinander. Am Kotti leben auf engem Raum unterschiedlichste Personengruppen nebeneinander. Alte Kneipen werden zu neuen Szenebars, Werbeagenturen siedeln sich an, Touristen gehen feiern, während dort weiterhin sozial schwache Personen wohnen.

Die Berliner Bürger haben – im Vergleich zu anderen Großstädten – noch viel mehr Gestaltungsraum, was den Bewohnern mehr Freiheiten bietet und ihn stärker mit der Außenwelt in Kontakt treten lässt. Das dadurch sichtbar werdende fragmentierte Selbst lässt sich – laut Baudelaires Glaube an die Mannigfaltigkeit – auf den Straßen beobachten (in Sennett, 1990, S. 161). Dies sind interessante Perspektiven um Interventionen im öffentlichen Raum genauer zu betrachten. In vielen Stadtteilen Berlins gestalten die Bewohner ihren Raum aktiv mit. Sie erzeugen Dissonanzen und beziehen Stellung und tragen damit zu einer urbanen Lebenskultur bei.

Quelle: Sennett, R. (1990). Civitas: Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Fischer: Frankfurt/Main.

Theorie 3: Spielerisch das Spektakel auflösen

Bilder sind sehr, sehr verführerisch - (c) by benoit ATL | tolle popart

In der letzten Theorie-Folge über die Situationistische Internationale (SI) habe ich ja u.a. über den Bilder-Fetischismus in unserer Gesellschaft geschrieben. Bilder sind wie Drogen oder Sex … sie verführen uns und lassen Gefühle auf heißter Flamme brutzeln, aber sie führen uns gleichzeitig an der Nase rum, lenken uns ab und hüllen manche üble Sachen in einem faszinierenden Schein – sprich das entfremdete Ich wird durch (Bilder-)Konsum zum Schein befriedigt. Diesen Mechanimus finden wir auch in der (Nachhaltigkeits-)Werbung wieder – was stellst du dir denn unter Landliebe vor? Ein schönes Bild? Alles  Spektakel! Die SI wollten dem Spektakel im Alltag entgegenwirken, indem sie eigene Situationen schafft.

Was ist eine Situation?

Inspiriert von Henri Lefebvres Theorie der Momente schuf die SI einen Situationsbegriff, der von einer natürlichen Abfolge von Situationen im menschlichen Leben ausgeht. Es gibt Momente der Liebe, der Freude, der Enttäuschung, des Hasses usw. Der Mensch setzt sich mit den Momenten auseinander und wird durch sie entscheidend geprägt. Wenn man an dieser Stelle eigene Situationen schafft, kann man diesen Zyklus durchbrechen. Durch konstruierte Situationen wollten die Künstler der SI also kleine Revolutionen im individuellen Alltag vollziehen. Dadurch sollte das Spektakel der Warenwelt bloß gestellt werden. In dem Rausch der Situation entlarven sie die Entfremdung, lösen sie auf und schaffen somit die Grundlage für Veränderung.

Eine konstruierte Situation definierte die SI als ein geplantes, kollektives und einmaliges Ereignis in einer abgegrenzten Umgebung in Form eines leidenschaftlichen Spiels (vgl. SI-REVUE 2008a). Diese Momente beschreibt Debord als „geordnete Intervention in […] die materielle Ausstattung des Lebens und Verhaltensweisen, die diese Ausstattung hervorbringt“ (DEBORD 1995, S.39). Situationen wurden meist von einem ‚Regisseur’ geleitet, hatten mehrere Mitwirkende und schlossen auch fremde Beobachter mit ein, die man „zur Handlung nötigen sollte“ (SI-REVUE 2008b). Es handelt sich also um konkrete Aktionen, die passive Konsumenten aus dem Alltag reißen und sie im situationistischen Sinne aktivieren.

Situationen der Nachhaltigkeits-Guerilla

Eigene konstruierte Situationen schaffen also Raum für Veränderung. Genau damit war die Nachhaltigkeits-Guerilla schon seit jeher beschäftigt. Als Muster-Beispiel sei unser verschollener Mitstreiter Edel Ali-Fresh genannt. Er lebte den Guerilla-Alltag. Wir waren Zeugen, wie er auf wilden Parties sich seine kostümierten Klamotten vom Leib riss und nackt –  nur mit Hut bekleidet – im Scheinwerfer breakdancte. Die Standard-Berliner-Wohnungs-Party-Besucher-Gespräche waren verstummt und die Party brach los.

Und in diesem Sinne war auch die Nachhaltigkeits-Guerilla (zusammen mit Freunden von u. a. Loesje und Grass-Routes) aktiv gewesen: das Guerilla-Wohnzimmer. Ein Wagen der Berlin Ringbahn wurde im Feierabendverkehr temporär in ein Wohnzimmer verwandelt. Die Zugvögel und wir schmückten das Abteil mit eigenen Einrichtungsgegenständen wie z.B. Bildern, Gardinen und Tischen und verwirrten damit die Fahrgäste. Damit wurden die Passanten in eine spielerische Situation gebracht, die alltägliche Rituale im öffentlichen Nahverkehr in Frage stellte. Mit Kaffee und Kuchen, ohne jegliche Kommentare, gesellten sich auf einmal Fahrgäste dazu. Die Erkenntnisse der Passanten: 1. Öffentliche Räume können auch als gemeinsamer kommunikativer Raum genutzt werden und 2. S-Bahn fahren kann durchaus gemütlich sein.

Spielen

Wenn man solche eigene Situationen schaffen will, lohnt sich eine Auseinandersetzung mit dem Spiel. Spiel kann sehr viele Bedeutungen haben. Stellen wir zuerst das Spiel aller Spiele vor: das kindlich Spiel. Für die SI sind nämlich Situationen „die Verwirklichung eines höheren Spiels oder genauer gesagt, die Aufforderung zum Spiel der menschlichen Anwesenheit“ (SI-REVUE 2008c). Sie lehnen den herkömmlichen Wettkampfgedanken von Gewinnen und Verlieren ab, denn sie setzen ihn mit den wesentlichen Charakterzügen des Kapitalismus gleich, als verkommenes Spiel von Eigentum und Armut. Situationen verkörpern dagegen experimentelle Spiele mit eigenen Regeln fernab des Spektakels im Alltag. Sie eröffnen neue Möglichkeiten und sorgen für die Freiheit des Individuums.

Die SI setzte sich oft mit Architektur, Stadtplanung und dessen Wirkung auf die Menschen auseinander, denn hier materialisiert sich das Symbolische im Kapitalismus. So wundert es nicht, dass ein Spiel entwickelt wurde, welches neue Möglichkeiten des Wohnens für den Einzelnen eröffnet: In der achten Ausgabe der Internationale Situationiste wird ein Gastgeber gelobt, der seinen Gästen leere Räume zur Verfügung stellt, die nach Belieben mit dargereichten nützlichen Gegenständen (z.B. Betten, Schränke, Stühle) und nutzlosen Gegenständen eingerichtet werden dürfen. Somit konnten neue Formen des Wohnens ausprobiert werden, fernab von konfektionierten Räumen, denen „eventuell eine Stimmung anhaftet“ (SI-REVUE 2008d). Als Kosmonauten stürzten sie sich in ferne Räume und als Avantgarde pflasterten sie neue Straßen für die nächste Generation. Die SI wollte neue Formen der Subversion erproben und entwickelte situationistische Techniken wie Dérive, Détournement und Montage/Bricolage.

(In den nächsten Folgen werde ich die drei subversiven Techniken Dérive, Détournement und Bricolage mal genauer unter die Lupe nehmen.)

Quellen

DEBORD, Guy (1995): Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz. In: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Übersetzt von Pierre Gallissaires. Hamburg: Edition Nautilus. S.28-44. (Org. 1957).

SI-REVUE (2008a): Die Theorie der Momente und die Konstruktion von Situationen. In: Online-Ausgabe der Zeitschrift der Situationistischen Internationale Nr.4 von 1960.
Übersetzung von 1976.

SI-REVUE (2008b): Vorbereitende Probleme zur Konstruktion einer Situation. In: Online-Ausgabe der Zeitschrift der Situationistischen Internationale Nr.1 von 1958. Übersetzung
von 1976.

SI-REVUE (2008c): Manifest. In: Online-Ausgabe der Zeitschrift der Situationistischen Internationale Nr.4 von 1960. Übersetzung von 1976.

SI-REVUE (2008d): Wiederholung und Neuigkeit in der konstruierten Situation. In: Online-Ausgabe der Zeitschrift der Situationistischen Internationale Nr.4 von 1960. Übersetzung von 1976.

Theorie 2: Situationistische Internationale

Gründung einer Bewegung

Die Situationistische Internationale (SI) ist Ende der 50er Jahre als Zusammenschluss aus verschiedenen linken Künstlergruppen entstanden. Hier versammelten sich bis zu 70 revolutionäre Genossen, die meist Künstler, Architekten und Theoretiker aus Ländern wie Frankreich, Belgien, England oder Algerien waren. Gründungsmitglied Guy Debord war die ideologische Leitfigur der SI und bis zu deren Auflösung 1972 der oberste Wächter über die selbst gesetzten Dogmen. Mit ihrem publizistischen Organ Internationale Situationiste übten sie einen entscheidenden Einfluss auf damalige und folgende linke Bewegungen aus, denn ihre jährliche Zeitschrift thematisierte erfolgreiche, situationistische Anwendungen in einem ästhetischen Stil, der bis dato seinesgleichen suchte (vgl. BAUMEISTER ZWI NEGATOR 2006, S.8f.).

Die Situationistische Internationale wird häufig als reine Kunstbewegung dargestellt, jedoch hat sie darüber hinaus einen höheren gesellschaftlichen Anspruch. Mit ihrer Periode zur Abschaffung der Kunst, wollten sie sich gerade aus den Fesseln der Kunst-Etikettierung befreien. Damit schließen sie sich ihren geistigen Vätern – den Dadaisten – an, die ebenfalls die bestehenden Grenzen von Politik, Kunst und Kultur auflösen wollten (vgl. SEIFERT 2004, S.187ff.).

Spektakel und Ich-Entfremdung

Die SI wollte die Entfremdung des Ichs in der spätkapitalistischen Gesellschaft bekämpfen. Ganz in der Tradition von Karl Marx kritisierte sie, dass sich Warenbeziehungen bis inden letzten Winkel der sozialen Realität eingenistet haben. Das eigene Leben wird zum Spektakel, das aus der Distanz beobachtet keinen direkten Zugriff mehr zulässt. Selbst intimste Momente werden in der Werbung abgebildet und lassen sich ‚imaginativ‘ konsumieren (vgl. BAUMEISTER ZWI NEGATOR 2006, S.9; PLANT 2001, S.244f.). Das Bild wird damit zur wertvollsten Ware und stellt den mächtigsten Fetisch dar. Dabei überlagert es den eigentlichen Kern der Sache. Durch den immerwährenden Konsum von konsumentengerechten Bildern wird das entfremdete Ich zum Schein befriedigt und die natürlichen Wünsche verschwinden.

Nach Debord ist das Spektakel, worauf die ganze kapitalistische Produktion abzielt, „nicht ein Ganzes von Bildern, sondern [ein] durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen“ (DEBORD 1978, S.3). Es ist nicht mehr als eine Scheinwelt, in der sich alle Menschen bewegen und ihre festgelegten Rollen spielen. Freiheit verkommt darin zur puren Repräsentation und gleicht einer Simulation, denn ‚freie Wahl’ bedeutet nichts anderes, als zwischen vorgegebenen Bildern zu entscheiden. Die Eintrittskarte zu dieser ‚schönen neuen Welt’ heißt Geld. Damit wird Geld zum eigentlichen Sinn des Lebens. Alle Tätigkeiten dienen für das entfremdete Ich zum sinnleeren Gelderwerb.

Eine Entfremdung vom Ich beinhaltet jedoch, dass es früher einmal anders war. Hier stellt sich die Frage, ob der Mensch jemals zuvor eine echte Freiheit im Sinne der SI leben konnte. Dies kann bezweifelt werden, denn mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in den letzten Jahrhunderten wurde die Freiheit des Einzelnen gestärkt. Die Arbeitszeit für die Befriedigung der Grundbedürfnisse nahm beträchtlich ab und konnte anderweitig für höhere Bedürfnisse investiert werden. Jedoch stieg auch der Grad der Fremdbestimmung, denn eine Arbeitsteilung schließt ein, dass nicht nur die eigenen Ziele verfolgt werden können.Eine starke Differenzierung der Gesellschaft im flexiblen Kapitalismus bringt also zwangsläufig eine Entfremdung des Subjekts mit sich. Es ist eine Frage des Maßes, wie sich dieses Phänomen in einer Gesellschaft äußert. Menschen sollen keine konsumierenden Roboter und hirnlosen Staatsdiener sein, auch wenn es manche Ideologien so vorgeben.

Fast 50 Jahre nach der Gründung der SI hat sich die Ausgangssituation maßgeblich verändert. Während in den 50/60er Jahren der 2. Weltkrieg für die meisten Menschen aktive Erinnerung war und eine neue Zeit der Warenwelt angebrochen schien, ist heute der flexible Kapitalismus zum Normalzustand geworden. Was der SI damals so neu und fremd erschien, hat sich heute noch viel stärker im Alltag manifestiert. Die Wirtschaft hat längst die Kraft der Bilderwelten erkannt und setzt sie bewusst ein. Marken sind nichts anderes als ‚appetitanregende Gedankenbilder/-filme’, die den Konsumenten verführen sollen. Sie wirken als lustvolles Versprechen für die individuelle Zukunft der Konsumenten. Die Mitglieder der SI spürten scheinbar eine solche dramatische Entwicklung und versuchten durch subversive Aktivitäten dem Spektakel entgegenzuwirken.

(In der nächsten Folge wird erklärt, wie die Situationistische Internationale das Spektakel auflösen wollte. Dann kommen wir auch wieder zur praktischen Guerilla)

Quellen

BAUMEISTER ZWI NEGATOR, Biene (2006): Situationistische Revolutionstheorie – Communistische Akutalität und linke Verblendung. In: Grigat, Stephan et. Al. (Hrsg.): Spektakel – Kunst – Gesellschaft. Guy Debord und die situationistische Internationale. Berlin: Verbrecher Verlag. S. 5-36.

SEIFERT, Anja (2004): Körper, Maschine, Tod. Zur symbolischen Artikulation in Kunstund Jugendkultur des 20. Jahrhundert. Wiesbaden: VS Verlag.

PLANT, Sadie (2001): In die Theorie hinein und wieder hinaus. In: Baecker, Dirk / Huber, Jörg (Hrsg.): Kultur-Analysen. Interventionen. Wien: Springer. S. 243-260.

DEBORD, Guy (1978): Die Gesellschaft des Spektakels. Übersetzt von Jean Jaques Raspaud. Hamburg: Verlag Lutz Schulenburg. (Org. 1967).


Aufbau einer Gegenöffentlichkeit

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtssprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtssprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Was hier leider nicht gesagt wird ist, wie wir das anstellen sollen. Auch in klugen Kommentaren des Grundgesetzes ist keine praktische Handlungsanweisung zu finden. Also sind wir auf uns selbst gestellt. Die Möglichkeit zum Widerstand liegt unter Umständen genau da, wo die Herrschenden ansetzen, um die Mehrheit der von ihnen Drangsalierten auf ihre Seite zu ziehen: im Versuch, Einfluss zu nehmen auf die öffentliche Meinungsbildung, im Aufbau einer Gegenöffentlichkeit.


(Bildquelle: Antifa-Streetart)

Der Text wurde dem Buch ‚Müller, Albrecht (2009): Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen‚ entnommen (S. 26)

Treffender hätte ich es nicht formulieren können: Die Möglichkeit zum Widerstand liegt im Versuch, Einfluss zu nehmen auf die öffentliche Meinungsbildung, im Aufbau einer Gegenöffentlichkeit., (bspw. mittels Bürgerjournalismus, Videoaktivismus, Kommunikationsguerilla, Blog/Vlog – mehr dazu später).

Die Guerilla strippt endlich weiter: Theorie 1.SUBVERSION

tit revolution (c) by pkfortyseven

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Vor Urzeiten haben wir begonnen, uns nackig zu machen – aber nur sprichwörtlich. Wir wollten das Wesen der Nachhaltigkeits-Guerilla ergründen und einen thereotischen Strip hinlegen. Ich glaube wir sind irgendwo bei der Jacke oder Mütze hängen geblieben und sind dann eingeschlafen. Jetzt gehts endlich weiter. Licht aus, Musik an …

Heute fangen wir  mit dem Begriff der Subversion an. Subversion bedeutet im Allgemeinen soviel wie umstürzen oder umkehren. Im Kern geht es um die Aktivität eines Schwächeren in einem politischen Umfeld mit einer etablierten Herrschaftspraxis, einem dominanten Kollektiv und festgelegten Routinen (vgl. TERKESSIDIS 2009, S.21). Mitunter werden durch subversive Aktivitäten Innovationskräfte freigesetzt, wenn auf das Umstürzen bestehender Traditionen oder Herrschaftsverhältnisse abgezielt und damit ein Vakuum für Neues geschaffen wird.

Dabei unterscheidet sich das Subversive grundsätzlich von anderen Widerstandsformen wie z.B. dem Protest, der auf einen Dialog mit den Herrschenden setzt oder dem Kabarett, das eine kritisch-ironische Distanz zu denAutoritäten schafft. Während diese Widerstandsformen meistens einen stabilisierenden Effekt auf Machtsysteme haben, wollen subversive Kräfte sie demontieren. Dabei operieren sie oftmals im Verborgenen und bedienen sich unterschiedlicher Taktiken und Strategien.

Die Subversiven können Hegemonien direkt von ‚außen’ attackieren oder sie unterwandern Machtsysteme von innen und zersetzen sie langsam. In der jüngeren Geschichte gab es diverse prominente subversive Bewegungen, von den Dadaisten, über die Cultural Jammers zur Roten Armee Fraktion. Diese Bandbreite zeigt die Unschärfe des Begriffs auf. Man kann den Begriff nach Ernst in seinen historischen Verwendungen voneinander abgrenzen (vgl. ERNST et. al. 2008, S.12ff.):

  1. Die politisch-revolutionäre Subversion wird aus der Sicht der Herrschenden eingeordnet. Sie bezeichnet jene Gruppen, die eine bestehende Herrschaft mit einem „revolutionären Akt oder Prozess radikal umstürzen wollen“ (ebd., S.13). Diese Kategorie wird gemeinhin mit Terror gleichgesetzt, wie ihnAl-qaida oder Hamas betreiben.
  2. Die künstlerisch-avantgardistische Subversion wird vorwiegend durch Kunstbewegungen forciert. Hier werden vorherrschende Zeichensysteme durch „einzelne spielerische Akte exemplarisch“ (ebd., S.13) außer Kraft gesetzt. Als Beispiele dieser Kategorie können Bewegungen wie die Surrealisten, die Situationisten oder die Kommunikationsguerilla genannt werden.
  3. In der minoritären Subversion erheben sich einzelne diskriminierte Minderheiten gegen die ethnische, sexistische oder ökonomische Unterdrückung durch die Mehrheitsgesellschaft. Dabei können sie durch Vorleben ihres alternativen Lebensstils eine fundamentale Veränderung der Majorität herbeiführen.
  4. Im Begriff der dekonstruktivistischen Subversion beziehen sich Vertreter der Gender Studies und der Postkolonialen Theorie „auf die These, dass die Befreiung ‚minoritärer Identitäten‘ erst durch die Auflösung jener Matrizen[…], die sie konstruieren helfen, erreicht werden könne“ (ebd., S.14).

Die Nachhaltigkeits-Guerilla bewegt sich auf dem Pfad der (2) künstlerisch-avantgardistische Subversion. Wie Schäfer und Bernhard feststellen, sind subversive Praktiken nicht allein dem Subversiven vorbehalten, sondern „lassen sich in den Bereichen Kunst, Politik und Wirtschaft zur Kommunikation von Themen feststellen“ (SCHÄFER/BERNHARD 2008, S.74). So werden sie mit Vorliebe auch von Marketing und Public Relations entdeckt und gebraucht.

(Die nächsten Theorie-Beiträge sind gesondert kennzeichnet und kategorisiert. Es geht in einer Woche weiter mit der Situationistischen Internationale.)

Quellen

ERNST, Thomas et. Al (2008): SUBversionen. Eine Einführung. In: Ernst, Thomas et. Al. (Hrsg.): Subversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart. Bielefeld: transcript Verlag. S.9-26.

SCHÄFER, Mirko Tobias / BERNHARD, Hans (2008): Subversion ist Schnellbeton! Zur Ambivalenz des ‚Subversiven‘ in Medienproduktionen. In: Ernst, Thomas et. Al. (Hrsg.): Subversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart. Bielefeld: transcript Verlag. S.27-46.

TERKESSIDIS, Mark (2008): Karma Chamäleon. Unverbindliche Richtlinien für die Anwendung von subversiven Taktiken früher und heute. In: Ernst, Thomas et. Al. (Hrsg.): Subversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart. Bielefeld: transcript Verlag. S.69-88.