Theorie 4: Derivé – Spielerisch die Stadt erkunden

mapping the city (c) by milva stutz

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Nachdem ich mich das letzte Mal mit Spiel und Spektakelauflösung beschäftigt habe, ist es nun an der Zeit konkrete subversive Techniken der Situationistischen Internationale (SI) zu beleuchten. Heute fangen wir mit der Ersten an:

Dérive

Dérive ist das ziellose Umherschweifen in abwechslungsreichen Umgebungen. Dabei ähnelt es weniger einem erholsamen Spaziergang, sondern vielmehr einer forschenden Erkundung. Man verzichtet für eine gewisse Zeit auf Gewohnheiten und distanziert sich von allem Bekannten. Dann lässt man sich in einem emotionalen Spiel auf die Versprechungen eines Raumes ein und folgt z.B. den anziehenden und abstoßenden Ecken einer Stadt. Hier werden die Wirkungen, die der Raum auf die Psyche ausübt, von den Umherschweifenden studiert und hinterfragt. Es geht im Kern darum, Neues zu entdecken oder Vertrautes als fremd wahrzunehmen. Die untersuchten Ergebnisse sollten in Karten eingezeichnet und so  psychogeographische Zusammenhänge sichtbar gemacht werden (=Psychogeographie beinhaltet die Forschung über die Auswirkungen von geographischen Gegebenheiten auf die Emotionen von Menschen).

Daraufhin können neue Ideen entwickelt und im urbanen Raum integriert werden. Eine Idee war beispielsweise, kleine Brücken zwischen Hausdächern zu bauen, so dass Bürger auf den Dächern entlang wandern und mit einer anderen Perspektive die Welt betrachten können. Psychogeographische Karten zielen nicht darauf ab, „beständige Kontinente genau abzugrenzen, sondern die Architektur und den Urbanismus umzuwandeln“ (SI-REVUE 2008e). Man wollte die alltägliche Lebenswelt radikal umbauen und so den Menschen zu neuen spielerischen Situationen einladen.

Der Umherschweifende Guerillero

Damit ähnelt die Motivation eines Umherschweifenden grundsätzlich dem Forscherdrang eines Nachhaltigkeits-Guerillero bzw. Nachhaltigkeits-Hacker. Man lässt sich bedingungslos und spielerisch auf virtuelle Räume ein und erkundet sie, mit dem Ergebnis, darin Änderungen hervorzurufen. Jedoch wird der ursprüngliche Anwendungsbereich des Umherschweifens durch dogmatische Vorgaben der SI stark eingegrenzt und durchdefiniert. In der festgelegten Vorstellung der SI ist das Umherschweifen nämlich mit zwei bis drei Personen am fruchtbarsten und sollte idealerweise vom Aufwachen bis zum Einschlafen dauern, wobei Gewitter und kurze Schauer das beste Wetter darstellen, um neue Entdeckungen zu machen. Dabei umfasste das Umherschweifen eine genaue Definition des Ausgangspunktes und der möglichen Stoßrichtungen, usw. (vgl. SI-REVUE 2008e).

Wenn man Dérive jedoch als zielloses Konzept begreift und sich mit Zeit, Leidenschaft und Neugier losgelöst von Gewohnheiten auf Dinge spielerisch einlässt, produziert dies neue Erkenntnisse, die als Grundlage für mächtige Innovationen dienen können. Das kann sowohl im Real-Raum – der Stadt, dem Dorf, das Land – oder im virtuellen Raum ausprobiert werden. Die Nachhaltigkeits-Guerilleros verstehen sich sowohl als Online-Umherschweifer als auch als Stadtvagabunden. Wir erkunden Räume, starten Experimente und wollen so Nachhaltigkeit für neue Themengebiete fruchtbar machen.

(Beim nächsten Mal folgt die nächste subversive Technik der SI: Détournement.)

Quelle

SI-REVUE (2008e): Theorie des Umherschweifens. In: Online-Ausgabe der Zeitschrift der Situationistischen Internationale Nr.2 von 1958. Übersetzung von 1976.

.: Stadtkultur verstehen – Dissonanzen erzeugen :.

aufgenommen in der U-Bahn-Station Rosenthaler Platz, Berlin Januar 2010

Im urbanen Raum spricht Baudelaire von „Ennui“ [Langeweile], die sich bei seinen Bewohnern einstellt. Die „Ennui“ begründet sich in der Sphäre der Oberflächlichkeit, in der wir uns alltäglich bewegen. Wir begegnen einem Netz aus fremden Personen morgens auf dem Weg zu Arbeit, beim Einkaufen, beim Umherlaufen oder beim Feiern. Es ist ein Raum der allen gemein ist, dadurch erscheint er „weniger bedeutsam als jenes ‚wirkliche Leben‘, das sich im Inneren jedes Einzelnen abspielt“ (Sennett, 1990, S. 160). In diesem Gegensatz zwischen Innen und Außen äußert sich die Langeweile und resultiert in der Annahme, nichts dort draußen sei meiner würdig.

Die moderne Großstadt überwindet die großstädtische Ennui

Nach Baudelaire kann jedoch die moderne Großstadt diese Langeweile überwinden und die Menschen veranlassen, sich nach Außen, statt nach Innen zu wenden (in Sennett, 1990, S. 161). Wenn die Großstadt Differenzen vermittelt, schafft sie es jene Langeweile zu überwinden und die Menschen orientieren sich aus dieser Mannigfaltigkeit heraus neu. Nach der Chicagoer Schule (bei dem der persönliche Geist ebenfalls im Kontrast zum unpersönlichen Kollektiv steht) besteht die urbane Kultur im „Erleben und Erfahren von Unterschieden von Klassen-, Alters-, Rassen- und Geschmacksunterschieden“ (Sennett, 1990, S. 165) im öffentlichen Raum. Dabei ist die Großstadt von einer anderen Ordnung geprägt: durch die Abwesenheit der moralischen Ordnung ergibt sich eine bruchstückhafte Ordnung, die sich durch die unterschiedlichen Bewohnern konstituiert. Aus diesem Gros an Gebrochenheit und Differenz ergeben sich für die Bewohner „segmentierte Rollen“: der Städter wechselt die Orte und Aktivitäten schneller. Sennett beschreibt den urbanen Städter als „Chamäleon“ (1990, S. 167). Das „fragmentierte Selbst“ ist empfänglicher für Anregungen aus der Außenwelt und überwindet die großstädtische „Ennui“. Dadurch hat er die Möglichkeit aus sich herauszutreten und den urbanen Raum für sich zu nutzen und mitzugestalten.

Berlin als Exempel einer modernen Großstadt

Nach Baudelaire kann die Großstadt „statt Ganzheit […] die Erfahrung von Differenz vermitteln“ (Sennett, 1990, S. 161). In Berlin erleben wir ein anonymes Netz das im Gegensatz zum Individuum steht. Jedoch ist Berlin eine heterogene und moderne Großstadt – sie vermittelt Differenzen und Mannigfaltigkeit an vielen Ecken. Es entspricht dem modernen Geist nach Baudelaire, der gekennzeichnet ist durch „das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige“ (in Sennett, 1990, S. 164). In diesem Konglomerat an Unterschieden und Bruchstücken, findet der Berliner seine Freiheit. Das fragmentierte Selbst überwindet dabei den Raum zwischen Außen und Innen und tritt im öffentliche Raum an vielen Stellen in Kontakt und trägt somit wieder zur wahrgenommenen Mannigfaltigkeit der Stadt bei. Notes of Berlin versucht z.B. den öffentlichen Charakter Berlins festzuhalten. Hier werden Mitteilungen an Kiezkollegen oder eine öffentlicher Weihnachtswunschzettel festgehalten.

Prinzipien der modernen Großstadt

Aus dem Charakter von Differenz und Modernität ergeben sich verschiedene Prinzipien, die die Gestalt des öffentlichen Raums beschreiben. Zum einen die Zerbrechung der Linearität: Dieses Prinzip beschreibt das Nicht-Planbare, das eigentliche Leben, das geprägt ist von Spontaneität. Gerade Berlin weist viele Beispiele für die Zerbrechung der Linearität auf. Nicht nur geschichtlich zeigte sich Berlin häufig unvorhersehbar, auch aktuelle Beispiele wie Mediaspree Entern, zeigen, wie ein geplantes Vorhaben vorzeitig unterbrochen werden musste. Auch viele Zwischennutzungsprojekte brechen mit einstigen Nutzungskonzepten. Das zweite Prinzip beschreibt die Überlagerung von Unterschieden. Statt einem Nacheinander kommt es hier zu einem Übereinander. Am Kotti leben auf engem Raum unterschiedlichste Personengruppen nebeneinander. Alte Kneipen werden zu neuen Szenebars, Werbeagenturen siedeln sich an, Touristen gehen feiern, während dort weiterhin sozial schwache Personen wohnen.

Die Berliner Bürger haben – im Vergleich zu anderen Großstädten – noch viel mehr Gestaltungsraum, was den Bewohnern mehr Freiheiten bietet und ihn stärker mit der Außenwelt in Kontakt treten lässt. Das dadurch sichtbar werdende fragmentierte Selbst lässt sich – laut Baudelaires Glaube an die Mannigfaltigkeit – auf den Straßen beobachten (in Sennett, 1990, S. 161). Dies sind interessante Perspektiven um Interventionen im öffentlichen Raum genauer zu betrachten. In vielen Stadtteilen Berlins gestalten die Bewohner ihren Raum aktiv mit. Sie erzeugen Dissonanzen und beziehen Stellung und tragen damit zu einer urbanen Lebenskultur bei.

Quelle: Sennett, R. (1990). Civitas: Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Fischer: Frankfurt/Main.