Theorie 3: Spielerisch das Spektakel auflösen
In der letzten Theorie-Folge über die Situationistische Internationale (SI) habe ich ja u.a. über den Bilder-Fetischismus in unserer Gesellschaft geschrieben. Bilder sind wie Drogen oder Sex … sie verführen uns und lassen Gefühle auf heißter Flamme brutzeln, aber sie führen uns gleichzeitig an der Nase rum, lenken uns ab und hüllen manche üble Sachen in einem faszinierenden Schein – sprich das entfremdete Ich wird durch (Bilder-)Konsum zum Schein befriedigt. Diesen Mechanimus finden wir auch in der (Nachhaltigkeits-)Werbung wieder – was stellst du dir denn unter Landliebe vor? Ein schönes Bild? Alles Spektakel! Die SI wollten dem Spektakel im Alltag entgegenwirken, indem sie eigene Situationen schafft.
Was ist eine Situation?
Inspiriert von Henri Lefebvres Theorie der Momente schuf die SI einen Situationsbegriff, der von einer natürlichen Abfolge von Situationen im menschlichen Leben ausgeht. Es gibt Momente der Liebe, der Freude, der Enttäuschung, des Hasses usw. Der Mensch setzt sich mit den Momenten auseinander und wird durch sie entscheidend geprägt. Wenn man an dieser Stelle eigene Situationen schafft, kann man diesen Zyklus durchbrechen. Durch konstruierte Situationen wollten die Künstler der SI also kleine Revolutionen im individuellen Alltag vollziehen. Dadurch sollte das Spektakel der Warenwelt bloß gestellt werden. In dem Rausch der Situation entlarven sie die Entfremdung, lösen sie auf und schaffen somit die Grundlage für Veränderung.
Eine konstruierte Situation definierte die SI als ein geplantes, kollektives und einmaliges Ereignis in einer abgegrenzten Umgebung in Form eines leidenschaftlichen Spiels (vgl. SI-REVUE 2008a). Diese Momente beschreibt Debord als „geordnete Intervention in […] die materielle Ausstattung des Lebens und Verhaltensweisen, die diese Ausstattung hervorbringt“ (DEBORD 1995, S.39). Situationen wurden meist von einem ‚Regisseur’ geleitet, hatten mehrere Mitwirkende und schlossen auch fremde Beobachter mit ein, die man „zur Handlung nötigen sollte“ (SI-REVUE 2008b). Es handelt sich also um konkrete Aktionen, die passive Konsumenten aus dem Alltag reißen und sie im situationistischen Sinne aktivieren.
Situationen der Nachhaltigkeits-Guerilla
Eigene konstruierte Situationen schaffen also Raum für Veränderung. Genau damit war die Nachhaltigkeits-Guerilla schon seit jeher beschäftigt. Als Muster-Beispiel sei unser verschollener Mitstreiter Edel Ali-Fresh genannt. Er lebte den Guerilla-Alltag. Wir waren Zeugen, wie er auf wilden Parties sich seine kostümierten Klamotten vom Leib riss und nackt – nur mit Hut bekleidet – im Scheinwerfer breakdancte. Die Standard-Berliner-Wohnungs-Party-Besucher-Gespräche waren verstummt und die Party brach los.
Und in diesem Sinne war auch die Nachhaltigkeits-Guerilla (zusammen mit Freunden von u. a. Loesje und Grass-Routes) aktiv gewesen: das Guerilla-Wohnzimmer. Ein Wagen der Berlin Ringbahn wurde im Feierabendverkehr temporär in ein Wohnzimmer verwandelt. Die Zugvögel und wir schmückten das Abteil mit eigenen Einrichtungsgegenständen wie z.B. Bildern, Gardinen und Tischen und verwirrten damit die Fahrgäste. Damit wurden die Passanten in eine spielerische Situation gebracht, die alltägliche Rituale im öffentlichen Nahverkehr in Frage stellte. Mit Kaffee und Kuchen, ohne jegliche Kommentare, gesellten sich auf einmal Fahrgäste dazu. Die Erkenntnisse der Passanten: 1. Öffentliche Räume können auch als gemeinsamer kommunikativer Raum genutzt werden und 2. S-Bahn fahren kann durchaus gemütlich sein.
Spielen
Wenn man solche eigene Situationen schaffen will, lohnt sich eine Auseinandersetzung mit dem Spiel. Spiel kann sehr viele Bedeutungen haben. Stellen wir zuerst das Spiel aller Spiele vor: das kindlich Spiel. Für die SI sind nämlich Situationen „die Verwirklichung eines höheren Spiels oder genauer gesagt, die Aufforderung zum Spiel der menschlichen Anwesenheit“ (SI-REVUE 2008c). Sie lehnen den herkömmlichen Wettkampfgedanken von Gewinnen und Verlieren ab, denn sie setzen ihn mit den wesentlichen Charakterzügen des Kapitalismus gleich, als verkommenes Spiel von Eigentum und Armut. Situationen verkörpern dagegen experimentelle Spiele mit eigenen Regeln fernab des Spektakels im Alltag. Sie eröffnen neue Möglichkeiten und sorgen für die Freiheit des Individuums.
Die SI setzte sich oft mit Architektur, Stadtplanung und dessen Wirkung auf die Menschen auseinander, denn hier materialisiert sich das Symbolische im Kapitalismus. So wundert es nicht, dass ein Spiel entwickelt wurde, welches neue Möglichkeiten des Wohnens für den Einzelnen eröffnet: In der achten Ausgabe der Internationale Situationiste wird ein Gastgeber gelobt, der seinen Gästen leere Räume zur Verfügung stellt, die nach Belieben mit dargereichten nützlichen Gegenständen (z.B. Betten, Schränke, Stühle) und nutzlosen Gegenständen eingerichtet werden dürfen. Somit konnten neue Formen des Wohnens ausprobiert werden, fernab von konfektionierten Räumen, denen „eventuell eine Stimmung anhaftet“ (SI-REVUE 2008d). Als Kosmonauten stürzten sie sich in ferne Räume und als Avantgarde pflasterten sie neue Straßen für die nächste Generation. Die SI wollte neue Formen der Subversion erproben und entwickelte situationistische Techniken wie Dérive, Détournement und Montage/Bricolage.
(In den nächsten Folgen werde ich die drei subversiven Techniken Dérive, Détournement und Bricolage mal genauer unter die Lupe nehmen.)
Quellen