Digital Begging: mal etwas Freestyle-Betteln?

(‚Lazy Beggers‘, Quelle: http://lazybeggers.net23.net)

Kreuzberg. Fünf Stationen mit der U1 in Berlin. Eine Ansammlung der Ärmlichkeit? Ein Schmelztiegel der Gesellschaft. Ein Geben und Nehmen. Arm trifft auf Zugezogen.

„Wer möchte die aktuelle Ausgabe der Motz kaufen?“ „Wer kann Kleingeld für eine warme Mahlzeit geben?“

Auch in Parks, Straßencafés und Bars dauert es nicht lange, bis man eine freundliche Spendenaufforderung erhält. Der Helferinstinkt springt automatisch an, doch da er zehn mal am Tag anspringt, springt er auch bald leider wieder ab.

Von unserer Un-Fähigkeit des Nicht-Handelns.

Allen Aufforderungen nachzukommen, das schafft selbst der sozialste Mitbürger nicht. Das Problem – wie in einer jeder Großstadt – ist das oberflächliche Netz, indem wir uns tagtäglich bewegen und welches Baudelaire als „Ennui“ bezeichnet. Diese Sphäre – bestehend aus einer Ansammlung indifferenter, fremder Personen – erzeugt einen starken Gegensatz zwischen unserem Inneren und dem Äußeren. Das nicht zu vermeidende Ergebnis in großen Städten: Langeweile und Ignoranz!

Schwierig wird es, wenn wir eigentlich spenden wollen, aber nicht mehr wissen, wem wir was geben sollen und möchten. Im Alltag sind wir durch die Überkomplexität überfordert und das resultiert oftmals darin, dass wir keinem mehr was geben (können).

Weshalb sollten nicht auch Bettler zu Strategien der Aufmerksamkeit greifen und sich positionieren? Denn woher wissen wir warum wir dem Bettler am Kotti Geld für Essen (oder was auch immer) geben, und dem Bettler eine Ecke weiter aber nicht? Der Bettler muss eine Botschaft übermitteln und einen Zugang zu seinem Inneren herstellen, um sich von der Sphäre der Oberflächlichkeit zu unterscheiden. Die meisten Menschen eilen in wenigen Sekunden an ihnen vorbei, selbst wenn man mehrmals täglich vorbeiläuft. Eine tiefere Beschäftigung findet leider selten statt.

Die ersten Freestyle-Bettler:

Warum nicht die neuen partizipativen Möglichkeiten des Internets nutzen, in dem schließlich prinzipiell jeder zu Wort kommen kann? So machten es bereits die beiden Lazybeggers Lyndon Owen und José Manuel Calvo vor: „Wir sind Bettler des 21. Jahrhunderts„. Auf ihrer Website erhält man Einblicke in das Leben der zwei Cyber Bettler. In Fotogalerien kann man ihre Freunde, Hunde und die Bilder ihrer Reise bestaunen. Man erhält eine Ahnung von dem Leben der Bettler, ihren Persönlichkeiten und kann sich davon unterhalten lassen. Durch das Einbauen von Paypal ist der Schritt zum Spenden nicht weit. Die Facebook-Seite liefert aktuelle Infos über Owen und Calvo.

Chris Coon aus New York machte mit dem Projekt „Ask a Million“ sein Schicksal ebenfalls zum Beruf, was er als Social Experiment bezeichnet. Coon bittet nicht nur um Geld, sondern erhebt zudem noch Informationen, wie Alter, Geschlecht und Einkommen des Spenders. Er protokolliert wer ihm auf der Straße einen Dollar spendet und veröffentlicht seine Ergebnisse online. Zudem erfährt man mehr über die Geschichte von Chris Coon, seinen Lebensweg und seine Hürden. Durch diese Einblicke in seine Persönlichkeit schafft er einen emotionalen Zugang zu sich. Er nutzt sogar die Möglichkeit zweckgebundene Spenden zu generieren: wer möchte kann für einen Walmart-Gutschein spenden oder für Jacken und Schuhe (das Prinzip der zweckgebundene Spende wendet auch betterplace.org erfolgreich an).

Das Web als digitale Straße?

Transparenz der Spende trifft auf emotionalen Zugang. Das Internet, als dritter Raum zwischen Innen und Außen, kann es schaffen die großstädtische „Ennui“ zu überwinden. Neben Spenden können sich Obdachlose zudem ein Gehör für ihre Themen und Anliegen schaffen. Im Grunde könnte das Web zu einer metaphorischen „U1“ mit vielen Spenden-Buttons statt leeren Coffee-To-Go-Bechern und Pappschildern werden. Mit dem Unterschied, sich – ohne Eile – die Zeit nehmen zu können, sich mit den Personen, ihrem Leben und dem Verbleib der Spende zu beschäftigen.

Bedingung dafür ist jedoch die Sozialisierung von Obdachlosen mit dem Medium Internet und der Öffnung des viralen Raums für alle. Internetzugang und der Erwerb der entsprechenden Kenntnisse sind dafür im ersten Schritt nötig. Dank immer einfach werdenden Content-Management-Systeme und Bezahl-Systeme sollte es dann möglich sein, sich sein eigenes Sprachrohr zu schaffen. Die Initiative von Nachhaltigkeitsguerilla e.V. über kostenlosen Internetzugang für Obdachlose setzt hier an und ist bereits ein erster Schritt!

Was jedoch kein Medium dieser Welt jemals ersetzen kann, ist der erfreute Blick, nachdem man einen Euro in den leeren Coffee-To-Go geschmissen hat oder sein belegtes Brötchen abgegeben hat. Und dafür lohnt es sich doch nach wie vor, in der U1 den Blick zu heben, wenn es wieder heißt: „Wer kann Kleingeld für eine warme Mahlzeit geben?“